Hindustani Musik
Das Besondere der klassischen nordindischen Musik liegt in ihrer Verbindung von gefühlvollem Ausdruck, Virtuosität und der Improvisation aus dem Augenblick. Der Wirkung dieser Musik wird große Bedeutung zugemessen. Je vollkommener es dem Musiker gelingt, einen Raga zu beleben, desto deutlicher überträgt sich eine wohltuende Wirkung auf den Zuhörer. Neben einem neuen Klangerlebnis und verfeinerten melodischen Elementen bietet solch ein Konzert das Erlebnis spontaner Musikalität und Lebensfreude.
Die beiden tragenden Säulen der Hindustani Musik oder klassischen Nordindischen Musik sind:
Raga
Raga ist das, „was den Geist färbt“, so lautet die klassische Definition. Damit ist gemeint, dass die Klänge und Melodien dieser Musik den Zuhörer in eine Raga-spezifische Stimmung bringen sollen, vorzugsweise in eine gehobene. In früheren Zeiten wurde sie als göttliche Musik gesehen, so wie auch die Musik in unserem Kulturkreis zu Zeiten der Antike begriffen wurde, als noch die Göttin Athene mit ihrem Aulos (Oboe), oder der Gott Apollon mit seiner Leier über die Erde wandelte. Heute bezeichnen wir sie bescheidener als universelle Musik, und dies mit gutem Grund:
– sie stellt das umfassendste modale (d.h.: auf den Grundton bezogen) Musiksystem dar, was je auf der Erde geschaffen wurde;
– ihre Instrumente und Klänge gehören zu den Oberton-reichsten der Erde;
– ihre Modi (Tonleiter, Skala) und Ragas (vergleichbar mit der Kunstform der Sonate) verstehen sich als ausserhalb von Zeit und Raum stehend; sie sind Klangsymbole für allgemeine und übergreifende Empfindungen, Schwingungen oder Energien und unterscheiden sich damit prinzipiell von jeder Art von zeitgenössischer Musik;
– ihre Tonleitern lassen feinste Intervalle (sog. Shrutis oder Mikrotöne), Schwebungen und Einfärbungen zu, die es in dieser Ausdifferenzierung in keiner anderen Kunstmusik gibt;
– sie kennt zwar Kompositionen, aber sie lebt in und durch die Improvisation, welche gleichzeitig das verbindende Glied zur Gegenwart, zur aktuellen Situation in der musiziert wird, darstellt.
Tala
Die indische Musik hat nicht nur ein äußerst differenziertes melodisches System entwickelt.
Die Raffinesse des rhythmischen Systems steht dem in keiner Weise nach. Im Gegensatz zu anderen Musikkulturen versteht die indische Musik die Zeit nicht als linear, sondern als zyklisch. Insofern kann man ‚Tala’ auch definieren als einen rhythmischen Zeitenkreis.
Die Unterteilungen des Zeitenkreises, also die Rhythmen, wurden im Laufe der Jahrtausende ebenso perfektioniert, wie im melodischen System die Abstufung der Töne. Es gibt nicht nur Zyklen mit 3, 4, 5, 6,7,8,9,10,11,12,13 usw. Schlägen; bekannt – und früher einmal beliebt – war z.B. der Zyklus namens Chautal ki savari = 11 ½ Schläge. Und darin ist frei zu improvisieren.
Der Dhrupad Gesang
Dhrupad kann als urtümliche Form der nordindischen und pakistanischen klassischen Musik angesehen werden. Er leitete sich, unter Einflüssen der indischen Folklore, aus den Praktiken von Yogis her, die unter Zuhilfenahme alter Sanskrit-Texte die höchste Selbsterfahrung durch den Klang anstrebten. In der mittelalterlichen Zeit kristallisierten sich an den Höfen der nordindischen Fürstentümer die Form heraus, in der er von Kenner*innen der Musik noch heute praktiziert wird. Tonbildungen, die nach den festgelegten Regeln modaler Grundstrukturen („Ragas“) erfolgen, verdichten sich unter den Improvisationskünsten der*s Sängerin*s in tief bewegende Emotionen, die im letzten Teil der Darbietung von einer beidseitig gespielten Fasstrommel („Pakhavaj“) durch Kompositionen in rhythmischen Zyklen ihren Höhepunkt erfahren. Diese Musik beeindruckt phasenweise durch ihre meditative Einkehr ebenso wie durch ihre höchst ausdrucksvollen Stimmbewegungen und ihren melodischen Reichtum, wodurch sie unterschiedlichste Interessenlagen eines in sich diversen und nicht notwendigerweise vorgebildeten Publikums anzusprechen vermag.
In den 1960er Jahren wurde die zwischenzeitlich fast ausgestorbene Kunst des Dhrupad in die UNESCO-Weltkultursammlung aufgenommen.